2020: Nach einigen Jahren im Berufsleben entscheidet sich eine junge Frau Mitte Zwanzig, sich privat versichern zu lassen. Um den besten Tarif zu finden, recherchiert Sie auf verschiedenen Kanälen, unter anderem auch online über den mittlerweile gut etablierten Versicherer – Google Health. Hierbei stößt Sie auf einen Tarif, der die Offenlegung persönlicher Daten verlangt, beispielsweise die Anzahl von Schritten pro Tag, Schlafphasen, Blutwerte und Puls, welche mittels eines Fitness Trackers gemessen werden. Sie findet diese Informationen zu persönlich und vereinbart einen Termin mit dem Versicherungsagenten ihrer Eltern. Dieser bestätigt jedoch: „Es tut mir leid, junge Frau. Heutzutage muss jeder privat Versicherte seine perönlichen Gesundheitsdaten übermitteln. Wie sonst sollen wir den für Sie richtigen Tarif ermitteln?”

Ein beängstigendes Szenario oder ein Einblick in die Zukunft? Seit jeher stehen Versicherungen vor dem gleichen Dilemma: Nur die Kunden selbst wissen, wie risikoreich sie wirklich sind. Durch die Datenerfassung und anschließende Auswertung mittels Big Data unternehmen Versicherer nun einen riesigen Schritt zur Lösung des Problems.

Verhaltensbasierte Tarifmodelle

Eine zunehmende Anzahl von Versicherungsunternehmen bieten Krankenversicherungstarife, die die Nutzung von Fitness Trackern oder Apps voraussetzen. Diese erfassen Schlafverhalten und Ernährung, Anzahl von Schritten, Vitalwerte und informieren Nutzer über ihre Fortschritte. IT-Unternehmen arbeiten bereits an der Verbesserung der Sensoren, sodass diese dazu in der Lage sind, auch akkuratere Daten wie Blutwerte zu erfassen. Google beispielsweise hat vor kurzem eine Kontaktlinse entwickelt, die kontinuierlich die Blutzuckerwerte in der Tränenflüssigkeit misst und die Messergebnisse an das Smartphone des Nutzers sendet.

Tatsächlich hat AXA in Frankreich bereits einen Krankenversicherungstarif entwickelt, bei dem Versicherte auf freiwilliger Basis an Fitness-Wettbewerben teilnehmen können. Je nach Aktivität bietet AXA Rabattcoupons, Gutscheine für Vorsorgetermine und sogar kostenlose Fitness Tracker. Am Ende des Wettbewerbs können sich die Teilnehmer entscheiden, ob sie AXA ihre gesammelten Daten zur Verfügung stellen möchten.


Verhaltensbasierte Tarifmodelle existieren bereits in einigen Ländern. Anderswo steigt die Nachfrage nach verhaltensbasierten Tarifen graduell an. Neben der Datenerfassung erhoffen sich Versicherungsunternehmen den Lebenswandel von Versicherten positiv zu beeinflussen. Verbesserte Fitness reduziert

Gesundheitsrisiken und bedeutet somit geringere Kosten für Versicherer. Es ist denkbar, dass Versicherungsbeiträge zukünftig auf Basis der Aktivitätslevel von Versicherten berechnet werden.


In Deutschland nimmt die Marktdurchdringung von Fitness Apps rapide zu und viele Nutzer teilen ihre Gesundheitsinformationen bereits in Sozialen Netzwerken. Laut einer Studie des Marktforschungsunternehmens YouGov ist bereits jede dritte Person dazu bereit, persönliche Daten mit seinem Krankenversicherer zu teilen.

Big Data hat auch einen Weg in die Dienstleistungserbringung gefunden. Digitalisierung und die zunehmende automatische Verarbeitung eröffnen neue Betrugsmöglichkeiten, beispielsweise durch die digitale Manipulation von Rechnungen. Um diesem Trend entgegenzuwirken, ist eine spezielle Betrugserkennungssoftware nötig. Desweiteren können Behandlungsschritte für bestimmte Krankheiten mithilfe von großen Datenmengen analysiert werden.
Bei deutlichen Abweichungen setzt das System einen Alarm ab, anschließend wird der Fall im Detail untersucht und falsche Rechnungen werden abgelehnt.

Sind Big Data-Bedrohungen Ernst zu nehmen?


Mit verhaltensbasierten Tarifen sehen wir den Trend zur Individualisierung. Doch wenn jedes individuelle Risiko präzise kalkuliert werden kann, was bedeutet dies für die Solidaritätsgemeinschaft? Schließlich war Solidarität in vielen Ländern der ursprüngliche Gedanke hinter der Idee des Geschäftsmodells Versicherung.

Zur Zeit reagieren Versicherer mit einer Art “freiwilligen Verpflichtung“. Noch hört man von Versicherern Statements wie: „Wir nutzen die Daten nicht, um neue Kunden auszuwählen, sondern lediglich, um Anreize zu schaffen“ oder „Daten von Fitness Trackern sind zwar gut für Rabatte geeignet, sind aber nicht stabil genug für unsere Versicherungsmathematik“. Doch wird dies auch in den kommenden Jahren noch zutreffen?

Was sind die Konsequenzen für Kunden? Die permanente Überwachung des Versicherten gewährt Einblicke in das tägliche Leben. Darauf basierend kann ein persönliches Verhaltensprofil erstellt werden, was potenziell im Widerspruch zu den Interessen des Versicherten steht.

Der Austausch von Daten und teilweise auch die Abhängigkeit von diesen bringt auch Risiken mit sich. Daten lassen sich hacken und manipulieren und so stellt sich die Frage, ob die zusätzlichen Sicherheitskosten die erwarteten Geschäftsvorteile aufheben.

Der Blick über die Grenze bestätigt, dass die Datenerhebung nicht immer im Interesse der Verbraucher ist. Einige Versicherungsunternehmen in Großbritannien ahnden die Verletzung von Verkehrsregeln und Versicherte können bei groben Verkehrsverletzungen sogar ihren Krankenversicherungsschutz verlieren.

Eine Gratwanderung

Die im Zusammenhang mit Big Data entstehenden Möglichkeiten könnten für Versicherungsunternehmen nicht größer sein, doch die Bedenken von Datenschutzorganisationen stehen ihnen in nichts nach. Sie kritisieren den Mangel an Informationen betreffend der Datennutzung- und Sichtbarkeit. Die Deutsche Regierung hat ähnliche Bedenken, wie eine Befragung von Parlamentsmitgliedern zum Thema Datenerhebung, -Verwendung und -Speicherung im Januar 2015 ergab. Demnach benötigt jeder der verhaltensbasierte Daten sammeln und verwenden möchte, eine schriftliche Einverständniserklärung des Anwenders. Lösungen, die sich bereits in Anwendung befinden, werden auf die Einhaltung dieser Anforderung überprüft. Eine Verschärfung der Gesetzeslage ist zur Zeit nicht im Gespräch.
Die gesammelten personen- und verhaltensbezogenen Daten können zur Erstellung eines Persönlichkeitsprofils genutzt werden und ermöglichen die Analyse von Zusammenhängen. Andererseits bietet die Digitalisierung auch vermehrt Vorteile für Verbraucher. Das Szenario am Anfang dieses Artikels beschreibt, was passieren kann. Was passiert also, wenn Regulierung nicht die Anforderungen löst, die mit der Digitalisierung entstehen?

Wenn Versicherungsunternehmen die Hände gebunden sind in Bezug auf geplante neue Produkte und Geschäftsmodelle könnten Versicherer aus weniger regulierten Ländern oder sogar Technologieunternehmen wie Apple, Google und Samsung versuchen, diese Marktlücke zu schließen und somit Versicherungen verdrängen, die Regulierungen unterworfen sind. Google hat bereits erste Schritte unternommen und in das U.S. Krankenversicherung Start-Up Oscar investiert, welches stark auf verhaltensbasierte Tarife ausgelegt ist. Was passiert, wenn neue Versicherungsmodelle oder sogar individuelle Risikoprofile an Versicherungsunternehmen wie Oscar verkauft werden, die nicht von Regulierungen betroffen sind? Angesichts der aktuellen technischen und analytischen Möglichkeiten ist diese provokative Idee vielleicht gar nicht so absurd?

Die Versicherer stehen zwischen den Stühlen: Einerseits verspüren sie aufgrund der Datenhoheit von disruptiven Wettbewerbern Handlungsdruck, andererseits herrscht Angst vor zunehmender Regulierung durch den Gesetzgeber.

Wie geht es weiter

Die Richtlinien für die Standardisierung von Nutzerrechten , wie sie von Datenschutzorganisationen verlangt werden, sind ein erster Schritt in Richtung Datensicherheit. Gleichzeitig verbauen diese jegliche Innovationschancen für betroffene Versicherungsunternehmen. Doch eine einheitliche, transnationale Datenschutzvereinbarung schützt nicht vor FinTech Unternehmen, die die Aufsichtbehörden umgehen und Teile der Wertschöpfungskette übernehmen – wie es bereits im Bankwesen geschehen ist.

Die Beschränkung von Big Data, um zu verhindern, dass Digitialisierungsmöglichkeiten in Ländern mit weniger Regulierungen umgesetzt werden oder dass disruptive Wettbewerber in den regulierten Versicherungsmarkt eintreten, wäre fatal für die Innovation. Stattdessen wird eine Definition für den schmalen Grat zwischen Digitalisierung und Regulierung benötigt, die eine Balance zwischen Anwenderschutz und Innovationsschutz findet. Big Data ist Teil des 21. Jahrhunderts und eine allgemeine Regulierung der Datenerhebung ist möglicherweise wirkungslos.

Im Fokus sollte die Schaffung von Transparenz gegenüber Kunden und die Förderung von aktiver Nutzerbeteiligung stehen. Im Hinblick auf Transparenz ist es wichtig, entsprechende Regeln festzulegen, die kurz und verständlich darlegen, in welcher Weise das Unternehmen beabsichtigt, Daten zu sammeln, zu nutzen und zu speichern. Erhöhte Beteiligung und Transparenz bedeutet eine „Win-Win-Situation” für alle Beteiligten und muss im Zusammenhang mit Big Data etabliert werden, da Unternehmen weitere innovative Lösungen entwickeln werden, die letztendlich den Nutzern zugutekommen.