September 2024
Die aktuelle Situation in zahlreichen Verwaltungen ist durch eine Vielzahl von Konsolidierungsverfahren geprägt. In unserer Serie „IT-Konsolidierung im öffentlichen Sektor“ wollen wir Sie vierteljährlich auf die damit zusammenhängenden Herausforderungen aufmerksam machen, Lösungsansätze aufzeigen und Ideen teilen. Erfahren Sie in unserer neusten Ausgabe, warum das Prinzip der „Ganzheitlichkeit“ in der IT entscheidend ist und warum digitale Prozesse auch die Fachverfahren umfassen müssen, um nachhaltige Effizienzsteigerungen und echten Mehrwert für Bürger:innen und Unternehmen zu schaffen.
These 2: Ganzheitlichkeit - warum IT auch die Prozesse der Fachverfahren umfassen muss |
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Ganzheitlichkeit - ein neues Trendwort innerhalb der IT - ist heute in aller Munde, endet jedoch meist schon zu Beginn von Digitalisierungsvorhaben in der öffentlichen Verwaltung. Aber warum sollte Ganzheitlichkeit, auch "End-to-End" (kurz E2E) genannt, gerade in der Digitalisierung beachtet werden?
Die Digitalisierung von Prozessen umfasst meist nur die sichtbaren Schritte wie die der Präsentationsebene – also der Teil, der für Betrachtende sichtbar ist. Dass Prozesse für die Bürger:innen und Unternehmen digitalisiert werden, sollte dabei nur der erste Schritt sein. Dabei ist es erforderlich, dass auch der funktionale Teil des Prozesses, das sogenannte Backend, für eine vollumfängliche Digitalisierung einbezogen wird und somit den wahren Mehrwert schafft. Infolgedessen findet nicht nur eine Digitalisierung des gesamten Prozesses statt, sondern eine Reformierung, die die geänderten Möglichkeiten der Digitalisierung neu bewertet und umsetzt.
Es ist essenziell, die Potenziale der Digitalisierung zu analysieren, ob der bereits etablierte Prozess optimiert bzw. umgestaltet werden muss. Vielen Bürger:innen ist das Bild eines digital übermittelten Formulars, das anschließend in der Behörde für die weitere Bearbeitung ausgedruckt wird, bekannt.
Welche Auswirkungen hat diese zu kurz gedachte Digitalisierung? In jedem Fall keine Kostenersparnis, sondern eher im Gegenteil: Es resultieren höhere, nachgelagerte Kosten durch „Schein“ (Teil)Digitalisierungen, Frust bei Bürger:innen und Behörden sowie Imageschäden. Abhilfe kann durch ein komplettes Überdenken der Prozesse geschaffen werden. Es ist nicht zielführend die bestehenden (Papier-)Prozesse 1:1 zu digitalisieren. Sie müssen auch unter Beachtung der Möglichkeiten und geänderten Rahmenbedingungen der digitalen Welt neu gedacht werden. Es gilt die rechtlichen und gesellschaftlichen Veränderungen zu verstehen und diese zu bewältigen. Das resultiert zwar anfangs in einer Aufwandserhöhung, jedoch kann dieser einmalige Aufwand - wenn richtig und konsequent durchgeführt und ganzheitlich betrachtet - in einer dauerhaften Arbeits-, Kosten- und Ressourcenersparnis resultieren.
Lösungsansatz: Einzelne Teilprozesse zu digitalisieren greift zu kurz und geht am Ziel der Konsolidierung vorbei. Eine erfolgreiche Digitalisierung muss den vollständigen Prozess inklusive der Fachverfahren von Anfang bis Ende umfassen.
Die heutigen Fachverfahren wurden mehrheitlich für die Bearbeitung von papierbasierten Prozessen konzipiert. Hier gilt es das gesamte Verfahren neu zu denken und mit einem Fokus auf End to End Digitalisierung umzusetzen - die bisherigen Prozesse stammen größtenteils aus den analogen 50er Jahren. Im Ergebnis (und im Idealfall) ergeben sich schlanke digitale Prozesse, die ohne Medienbrüche die Ergebnisse der bisherige Verwaltungsarbeit abbilden.
Situation: Auch Fachverfahrenshersteller (FVH) stehen vor der Herausforderung der ganzheitlichen Betrachtung der Prozesse der Fachverfahren. Hierbei handelt es sich nicht ausschließlich um den öffentlichen Sektor, sondern auch um die Beteiligung von Marktteilnehmer:innen, die in einer Konkurrenz- bzw. Kooperationssituation handeln. Auch aufgrund von rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen, haben FVH bestimmte Grenzen einzuhalten.
Lösungsansatz: Eine neugedachte, ganzheitliche Vorgehensweise umfasst neben den Aspekten der vorurteilsfreien neuen Betrachtung von Prozessen auch die Interoperabilität, Sicherheit, Qualität und Wirtschaftlichkeit der Fachverfahren. Dies stellt die FVH vor Herausforderungen Synergien zu schaffen und mit anderen FVH zusammenzuarbeiten und Behörden und Standardisierungsgremien in die Entwicklung von Strategien und nachhaltigen Lösungen als Nutzer:innen einzubinden.
Aktuell befindet sich Deutschland auf Platz 18 von 27 im europäischen Vergleich in Bezug auf E-Government. Beleuchtet man hierbei die Thematik des Onlinezugangsgesetzes (OZG), welches bis 2022 umgesetzt werden sollte, wird deutlich, dass dies noch nicht vollumfänglich realisiert ist. Aktuell sind gerade einmal 154 der OZG-Leistungen flächendeckend umgesetzt worden (Stand 21.06.24). Für Interessierte gibt das OZG-Dashboard einen Überblick zum aktuellen Umsetzungsstand mit Aufschlüsselung zu den einzelnen Bundesländern.
Der eGovernment Monitor von 2021 zeigt hierzu, dass die Zufriedenheit der Bürger:innen rückläufig ist und auch die Nutzung aktuell stagniert. Lediglich die online-Terminvereinbarung und die digitale Kommunikation mit den Bürgerämtern wird von Bürger:innen angenommen. Am Beispiel OZG kann man sehen, dass die Vorgehensweise der Ganzheitlichkeit noch keinen flächendeckenden Einzug in die öffentliche Verwaltung gehalten hat.
Daher konnte eine Umsetzung des OZG bis Ende 2022 nicht vollumfänglich umgesetzt werden. Mit dem im Jahr 2023 veröffentlichten OZG-Änderungsgesetzes können die begonnen Projekte zwar weitergeführt werden, jedoch sind weiterhin zahlreiche betrachtete Prozesse noch nicht medienbruchfrei digitalisiert worden. Zudem wird trotz der Verlängerung der OZG-Projekte in zahlreichen Bundesländern eine umfassende Digitalisierung nicht in absehbarer Zeit realisiert werden.
1. Ebene: Fachverfahren sind nicht komplett auf digitale Prozesse ausgerichtet und bilden nur eine neue Auflage von papierbasierten Prozessen ab. Ein vollumfängliches Neudenken der Prozesse ist notwendig, um den sich ändernden Anforderungen der Bevölkerung gerecht zu werden.
2. Ebene: Fachverfahren sind untereinander und nicht aufeinander abgestimmt damit sind sie nicht medienbruchfrei. FVH müssen die Bereitschaft zur Zusammenarbeit aufweisen und weitere Stakeholder einbinden. Mehr dazu im kommenden Artikel „IT-Dienstleister müssen gemeinsam im Verbund stark und fähig sein“
3. Ebene: Es soll eine horizontale Fachverfahrensharmonisierung (Kommune, Land, Bund untereinander, auch EfA-Prinzip) erreicht werden.
4. Ebene: Es soll eine vertikale Fachverfahrensharmonisierung (Kommunen bzw. Länder und Bund untereinander, auch EfA-Prinzip) erreicht werden.
Die Umsetzung volldigitalisierter Prozesse in der öffentlichen Verwaltung ist längst nicht abgeschlossen. Bürger:innen und Unternehmen stehen täglich vor neuen Herausforderungen ihre Angelegenheiten online, sicher und effizient zu erledigen. Das Prinzip der Ganzheitlichkeit verdeutlicht, dass wir alle ein gemeinsames Ziel haben und die Digitalisierung neu denken müssen.
Reformierte und medienbruchfreie Prozesse sollten im Fokus stehen, um einen Mehrwert zu schaffen, den die Bürger:innen und Unternehmen wirklich nutzen können und wollen. Diese schaffen nicht nur eine nachhaltige und dauerhafte Kostenersparnis, sondern auch einen effizienten Einsatz der Ressourcen an den Stellen, die eine Effizienzsteigerung bringen. Dagegen bringen 1:1 überführte papierbasierte Prozesse keine langfristigen Veränderungen und passen sich nicht an die veränderten Anforderungen der Gesellschaft und Technik an.
In diesem Artikel haben Sie erste Einblicke in die Perspektive der Ganzheitlichkeit der Verwaltungsdigitalisierung erfahren können. Wenn auch Sie und Ihre Abteilung/Unternehmen sich hier wiederfinden, kontaktieren Sie uns hierfür gerne für weitere spannende Diskussionen und Lösungswege, um Ihren Status-Quo zu evaluieren. Kontaktieren Sie uns hierfür gerne unter christian.lochert@bearingpoint.com.